Das Leben in fünf Sekunden

Es gibt jede Menge Arten, eine Geschichte kurz zu fassen. Es gibt den Tweet mit maximal 280 Zeichen. Um eine Idee in Silicon Valley zu verkaufen, erfand man die einminütige Fahrstuhlversion. Dann war es Ernest Hemingway, der ein Format für eine Geschichte mit nicht mehr als sechs Wörtern erfand, angeblich um eine Wette zu gewinnen. Aber eine könnte sie alle mit ihrer Kürze schlagen: Shortology. Ein ganzes Leben in nicht mehr als fünf Sekunden!

Oder ein Film. Shortology ist sowohl ein Konzept als auch eine grafische Technik für das blitzschnelle und super kurze Erzählen von Geschichten. Erfunden wurde alles von Matteo Civaschi und Gianmarco Milesi von der Mailänder Kreativagentur H-57. Es geht darum, eine ganze Geschichte zu erzählen, so jedenfalls erklären sie es in einem ihrer Bücher, indem man „alle sinnlosen und langweiligen Teile einfach weglässt“. Aber die Geschichte wird nicht mit Wörtern, sondern in Piktogrammen erzählt – und die beiden Autoren meinen die Art von Piktogrammen, die jeder Mensch kennt, der einmal eine öffentliche Toilette benutzt hat.

Alles begann mit Michael Jackson. So jedenfalls erklärt es Civaschi in einem Interview mit Wired Next Fest, ein Freund habe ihn um ein paar Zeichnungen für einen Blog gebeten, in dem es um Kreativität ging. Civaschi sagte, er wolle darüber nachdenken und dabei hatte er ein Aha-Erlebnis:

„Ich war in einem Café und las einen Artikel über Michael Jackson, in dem es darum ging, dass er weisser sein wollte als er von Natur aus war. In dem Café sass ich genau gegenüber den Toiletten und betrachtete das kleine Männchen auf der Tür zur Herrentoilette, die klassische zeichnerische Darstellung, die man überall auf der Welt findet und dachte: Warum sollte man die Geschichte nicht mit Hilfe dieses Männchens erzählen?“

Civaschis „Biographie” von Michael Jackson ist eine Abfolge von nur vier kleinen Darstellungen des Toiletten-Männchens: Im ersten Piktogramm ist es schwarz, im zweiten und dritten ist es jeweils etwas heller und im vierten ist es weiss und liegt horizontal – es ist tot. Die Darstellungen gingen im Netz schnell viral, und ihr Erfolg ermutigte ihre Erfinder, Mengen von anderen Zeichnungen zu schaffen, die alle auf der Shortology-Philosophie basieren, jede Geschichte lasse sich auf einige wenige ikonische und ironische Darstellungen reduzieren. Die einzelnen Abfolgen können in nur fünf Sekunden gelesen und auch verstanden werden, obgleich viele davon Rätsel sind, die einem mehr Konzentration abverlangen. Sie allerdings zu entschlüsseln, verschafft einem eine grosse Freude und Genugtuung und das Vergnügen, einigen einfachen Piktogrammen die Textur einer ganzen Geschichte abgewonnen zu haben: Das Leben in Kurzform.

Ihr erstes Buch, Das Leben in 5 Sekunden: 200 Biographien von Gott bis Pippi Langstrumpf wurde ein Erfolg und führte sie zu ihrem zweiten Titel: Der ganze Film in 5 Sekunden: 150 grosse Kinomomente von Psycho bis Avatar. Es ist genau, wie Civaschi es in dem Wired Interview sagte: „Das fruchtbarste Terrain für Shortology ist zweifelsfrei das Kino.“

Die meisten Filme dauern zwischen 100 und 150 Minuten, aber Shortology erzählt den Kern jedes Films in nur fünf Piktogrammen. Von Titanic über Jurassic Park bis zu Pulp Fiction, Shortology hilft euch dabei, eure Lieblingsszenen aus jedem Film abermals zu durchleben – oder sie geben euch wenigstens einen allgemeinen Eindruck von dem, was passiert, ohne dass ihr dafür eure Lebenszeit opfern müsstet, um den ganzen Film zu sehen.

Natürlich sagen euch Filmliebhaber auf der ganzen Welt, dass das Vergnügen gerade darin liege, sich einen ganzen Film von Anfang bis Ende anzuschauen, anstatt auf einen Blick ganz schnell zu wissen, worum es darin geht. Dagegen gibt es das Argument, dass Shortology selbst den einzigartigen Genuss bietet, jede Geschichte in einer universellen, visuellen Sprache einzudampfen und damit zu zeigen, dass manchmal die am meisten bewunderten Erzählmedien – wie zum Beispiel der Film – von einer neuen Gestaltung profitieren können.


➝ OPEN LINKS

h-57.com

➝ OPEN READ
Shortology H-57, Rizzoli, 2012