Das Emmentaler Syndrom

Auch Sisyphos wird sich im Laufe der Evolution gefragt haben, ob es nicht eine Alternative zu seiner äusserst anstrengenden Routine gibt. Denn wer nur Berge sieht, träumt zuweilen von flachen Landschaften und will irgendwann mit dem Kopf durch die harte Felswand. Den Schweizern wird es ähnlich gegangen sein.

Am Anfang stand ein Bohrer, um den Durchbruch zu schaffen. Auch hier war ein Schweizer massgeblich beteiligt: Den Spiralbohrer, mit dem Sie Ihre Dübellöcher bohren, hat der Tessiner Giovanni Martignoni in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts erfunden. Mit einem 400 m langen und 2’700 t schweren Riesenbohrer haben die Eidgenossen Jahrzehnte später den längsten Eisenbahntunnel der Welt gebaut. Rechnet man zu den 57 Kilometern des Gotthard Basistunnels alle über zwei Kilometer langen Auto- und Bahntunnel hinzu, kommt man auf eine Gesamtlänge von 600 Schweizer Tunnelkilometern. Wenn man dann noch die kürzeren einrechnet, ergibt sich eine Strecke, die von Sizilien bis Dänemark reicht: Europa unter der Erde. Swisstunnel, die Schweizer Datenbank für Tunnel, listet aktuell 1’329 Tunnelbauwerke auf – und es werden fast monatlich mehr.

Aber das Loch in seiner funktionalsten Form, dem Tunnel, ist nicht nur eine Frage des schnelleren Ankommens. Auch guter Käse, und auch dafür sind wir Schweizer bekannt, braucht die natürliche Kühle des Berginneren. So reifen rund 6’500 Käselaiber des Emmentaler Gourmino AOP bei perfekter Kühlung und Luftfeuchtigkeit in einer 200 m langen Tunnelanlage tief im Bergmassiv der Blüemlisalp. Wo sonst! Denn neben den Löchern im Käse entscheidet das Loch im Berg über seine Qualität. Wobei es für die Löcher im Käse schlicht Heupartikel in der Milch braucht: Je mehr Heu, desto mehr Löcher im Käse. Aber auch hier ist neben Erfahrung Mässigung gefragt: Zu viele Löcher würden zu wenig Käse bedeuten und zu wenig wäre kein Emmentaler mehr. Ein ähnliches Szenarium fürchten manche für die Schweiz: Vor lauter Tunneln sieht man sie am Ende gar nicht mehr.

Schweizer haben aber nicht nur für die Kürze des Wegs und die Würze des Käses tief gegraben, sondern auch für die äussere Sicherheit. Als die Welt noch meinte, man sollte sich auf das Schlimmste vorbereiten, haben sie damit begonnen, richtig viele Bunker in unseren felsigen Grund zu graben. Im kalten Krieg sollte am besten jeder seinen eigenen Bunker haben. Während Schüler in amerikanischen Schulen lernten, sich im Falle eines Atomangriffs unter dem Pult zu verstecken und ein Mathematikbuch über den Kopf zu halten, bauten wir ein aus mehr als 5’000 öffentlichen und 300’000 privaten Bunkern bestehendes Netzwerk auf, in dem mehr als acht Millionen Menschen untergebracht werden könnten. Und seit wir nach Mauerfall und Gorbatschow merkten, dass das vielleicht ein bisschen übertrieben war, dienen diese unterirdischen Schutzräume heute als Abstellkammern oder Proberäume für die Punkband der Tochter.

Wer in diese schweizerischste aller Welten abtauchen will, sollte eines der 17 Zimmer mit Gemeinschaftsbad in der wohl erstaunlichsten Unterkunft der Schweiz buchen. Das Hotel La Claustra auf dem Gotthardpass wurde tief in die unterirdische Festung eines alten Bunkers gebaut. Hier gibt es viel Stein, viel Wasser, aber wenig Licht, natürlich keinen Handyempfang und kein Fernsehen, aber dafür die Ruhe, um darüber nachzudenken, wie man endlich auf kürzestem Wege dahin kommt, wo man immer schon hinwollte.

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